Küche als Katalysator – Warum Social Gastronomy jetzt Thema ist

Der Kantine-Zukunft-Talk brachte internationale Impulse, Berliner Ideen und engagierte Gäste zusammen – mit konkreten Ansätzen für eine Social Gastronomy.

Am 2. April 2025 verwandelte sich unsere Kreuzberger Trainingsküche in einen lebendigen Ort der Begegnung. Thema des mittlerweile siebte Kantine-Zukunft-Talks war: „Social Gastronomy – Küche als Brücke für gesellschaftlichen Wandel“. Rund 80 Gäste aus Gastronomie, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft waren gekommen, um gemeinsam darüber zu sprechen, wie Gastronomie nicht nur satt machen, sondern auch sozialen Zusammenhalt stärken kann – in Berlin und weltweit.

Warum Social Gastronomy?

Projektleiter Philipp Stierand brachte es zu Beginn auf den Punkt: „Unsere öffentliche Verpflegung ist ein Spiegel der Stadt – und betrifft uns alle: vom Schulkind bis zur Geheimagentin, von der Stadtreinigung bis zum Bundeskanzler.“ Mit diesem Bild eröffnete er die Diskussion darüber, wie Gastronomie als soziale Infrastruktur verstanden werden kann – und welche Verantwortung ihr zukommt, gerade angesichts von Ernährungsarmut, Einsamkeit und gesellschaftlicher Spaltung.

Was ist Social Gastronomy?

Social Gastronomy denkt Essen neu – nicht nur als Versorgung oder Genuss, sondern als Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel. Sie nutzt die Kraft gemeinsamer Mahlzeiten, um soziale Ungleichheit zu verringern, kulturelle Vielfalt zu feiern und Menschen über Teller und Töpfe hinweg zu verbinden. Dabei überschreitet sie die Grenzen klassischer Gastronomie: Sie vereint soziale Arbeit, Gesundheitsförderung, Bildung und Nachhaltigkeit – und zeigt, wie aus einer Mahlzeit Gemeinschaft wird.
Essen wird so zum Mittel für Inklusion, Teilhabe und Empowerment. Und zur Antwort auf die Frage: Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben?

Internationale Impulse: Drei Modelle, ein gemeinsames Ziel

Drei digitale Impulse aus Schottland, USA/Italien und Chile zeigten eindrucksvoll, was möglich ist, wenn man Essen ganzheitlich denkt:

Anna Chworow (Nourish Scotland) stellte das britische Modell der Public Diners vor – aktuell in Planung befindliche, staatlich unterstützte Restaurants als offene, gemeinschaftsstiftende Orte. Diese sollen für alle Menschen zugänglich sein, unabhängig vom Einkommen, und durch gemeinsames Essen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Gesunde, erschwingliche Mahlzeiten in einer nicht-stigmatisierenden Atmosphäre – am besten direkt in bereits vorhandenen öffentlichen Einrichtungen. Die Idee knüpft an die British Restaurants des Zweiten Weltkriegs an und wird nun neu gedacht als Antwort auf heutige Herausforderungen wie Ernährungsarmut und soziale Isolation. „Public Diners sind nicht einfach Orte, an denen Menschen essen. Sie sind Orte, an denen Gemeinschaft entsteht“, so Chworow.


Jill Conklin (Food for Soul) präsentierte einen ganz anderen Ansatz: Die weltweit aktiven Refettorios ihrer Organisation, gegründet von Lara Gilmore und Sternekoch Massimo Bottura, verbinden Essen, Kunst und Gemeinschaft. „Wo Isolation herrscht, schaffen wir Zugehörigkeit“, fasste Jill zusammen. Aus geretteten Lebensmitteln entstehen hochwertige Gerichte – serviert in würdevoll gestalteten Räumen, die gemeinsam mit Künstlern und Architektinnen entworfen werden, von Mailand über Rio de Janeiro bis Sydney. „Design ist kein Luxus, sondern Teil des Empowerments“, betonte Conklin. Food for Soul lebt vom freiwilligen Engagement – in Küche, Service und Organisation. Die Nachfrage, sich zu beteiligen, ist riesig. Während die Public Diners vor allem zentral gedacht sind, entstehen Refettorios bewusst in Randlagen oder sozialen Brennpunkten – dort, wo Isolation und Armut besonders spürbar sind.

Raphael Rincón (Social Gastronomy Movement) schließlich setzte den systemischen Rahmen: Für ihn ist Social Gastronomy ein transformatives Werkzeug, das Ernährungssicherheit, soziale Inklusion, Gesundheit und Umweltbewusstsein verbindet.  „Social Gastronomy is not marketing – it is a tool for systemic change.“ Mit der von ihm gegründeten Fundación Gastronomía Social in Chile setzt er das konkret um – mit kostenlosen Mahlzeiten für Bedürftige und kulinarischer Ausbildung für Arbeitsuchende. Dadurch schaffen sie neue berufliche Perspektiven. Sie vernetzen unterschiedlichste Akteure aus Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Gastronomie wird hier als Plattform für Inklusion, Empowerment und nachhaltige Entwicklung verstanden – und als verbindendes Element für alle, die an zukunftsfähiger Ernährung mitwirken.

Berlin diskutiert mit – Perspektiven aus Politik, Zivilgesellschaft und Praxis

In der anschließenden Podiumsdiskussion wurden viele der internationalen Impulse aufgegriffen – von der Frage nach öffentlicher Verantwortung über die Rolle von Ehrenamt bis hin zur Vision einer Gastronomie, die Ausbildung, Teilhabe und Umweltschutz zusammen denkt.

Tamara Lüdke (SPD) hatte gleich einen konkreten Vorschlag: „Warum nicht wieder Küchen in ungenutzten Gemeinschaftsräumen einrichten – für gemeinsames Kochen, kulturelle Begegnungen und sozialen Zusammenhalt?“ Saskia Richartz vom Ernährungsrat Berlin ergänzte mit Blick auf die politischen Rahmenbedingungen: „Wir brauchen Orte, die alle Menschen einladen, gemeinsam zu essen – unabhängig vom Geldbeutel. Kiezkantinen und solidarische Bezahlsysteme sind dafür perfekte Lösungen.“

Themen wie Lebensmittelqualität, soziale Gerechtigkeit und Arbeitsbedingungen kamen ebenso zur Sprache: Viele Projekte im Bereich Social Gastronomy arbeiten mit geretteten Lebensmitteln – doch ist das ein würdevoller Weg? Auch Fragen nach Stigmatisierung und Inklusion wurden offen diskutiert: Wer nutzt solche Angebote – und was braucht es, damit sich wirklich alle angesprochen fühlen?
Ist Freiwilligenarbeit eine tragfähige Basis – oder braucht es langfristig bezahlte Strukturen? Und wie kann sich die Branche wandeln – hin zu fairen, inklusiven Arbeitsbedingungen? Andreas Tölke (Kreuzberger Himmel / Be an Angel e. V.) brachte es pragmatisch auf den Punkt. In seinem Restaurant arbeiten Geflüchtete, für die die Gastronomie eine echte berufliche Perspektive darstellt. Er betonte die Bedeutung von Wertschätzung, Teilhabe und Qualität – jenseits von Herkunft oder Status: „Gastronomie muss wieder Begegnungsort sein – offen für alle. Die Beispiele dafür sind da, wir müssen nur loslegen.“

Das Publikum brachte sich aktiv ein, Akteur*innen vernetzten sich, es entstanden Ideen für konkrete Projekte – von neuen Kooperationen bis hin zu möglichen Pilotstandorten für Berliner Public Diners.

Die vollständige Aufzeichnung der Podiumsdiskussion hier anschauen:

Von der Idee zur Praxis: Warum dieser Talk wichtig war

Die Veranstaltung zeigte klar, dass soziale Gastronomie nicht nur ein schöner Gedanke, sondern ein Schlüssel zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe und Solidarität ist. Neben Nachhaltigkeit und Qualität des Essens braucht es dabei ebenso Orte der Begegnung, Austauschmöglichkeiten und neue Formen des sozialen Miteinanders.

Dran bleiben: Videos, Podcasts und weiteres zum Thema

Beim Recherchieren und Planen sind wir auf viele spannende Dinge gestoßen, die wir niemandem vorenthalten wollen. Hier findet sich also eine kleine Sammlung weiterführender Infos:

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Publikationen & Artikel 

Podcasts & Videos 

Der nächste Kantine-Zukunft-Talk steht bereits fest: Im November widmen wir uns Ernährungshäusern – einem weiteren spannenden Ansatz, um Essen, Gemeinschaft und soziale Teilhabe zusammenzubringen. Mehr Infos und die Möglichkeit zur Anmeldung gibt es hier.

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