Mehr als Mathe, Deutsch und Englisch

Die Bedeutung von ganzheitlicher Ernährungsbildung

In unserer alltäglichen Arbeit mit Berliner Kantinenteams begegnen wir vielfältigen ernährungspolitischen Themen, die auch für Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Gesellschaft von großem Interesse sind. Diese greifen wir als Impulse in unseren Kantine-Zukunft-Talks auf und schlagen eine Brücke zwischen Gemeinschaftsgastronomie und Ernährungspolitik. Beim vergangenen Kantine-Zukunft-Talk „Lernort Schulkantine“ rückten wir das Thema Schulverpflegung in den Kontext der ganzheitlichen Ernährungsbildung und diskutierten Best-Practice-Beispiele mit Expert*innen aus Schweden, Tschechien und Deutschland.

Wie kann eine nachhaltige und gesunde Ernährungsumgebung in Bildungsinstitutionen gefördert werden? Was ist der Whole School Food Approach? Warum ist Schulverpflegung ein Querschnittsthema? Diesen Fragestellungen und ernährungspolitischen Themenfeldern boten wir am 9. Februar eine Bühne und holten uns dafür internationale Expertise in die Trainingsküche.

Beim Kantine-Zukunft-Talk gaben Susie Broquist Lundegård, Tom Václavík und Cecilia Eyssartier in kurzen Online-Inputs Einblicke in ihre Arbeit. Anschließend tauschten sich Dorothee Everding, Constanze Rosengart und Steffen Wittkowske in einer angeregten Podiumsdiskussion über den Stellenwert von ganzheitlicher Schulverpflegung aus. Unter den 40 Gästen vor Ort waren neben Lehrer*innen, Schulcaterern und Akteur*innen aus Berliner Bildungsprojekten, branchennahe und branchenferne Interessierte. Sie alle konnten ihre Perspektiven und Fragen mit ins Gespräch einbringen. In diesem Blogbeitrag haben wir wichtige Gedanken der Online-Inputs inklusive der Präsentationen festgehalten. Außerdem finden sich hier eine Zusammenfassung der Podiumsdiskussion und natürlich viele fotografische Eindrücke des Abends.

„Kooperiert und bildet Netzwerke!“

Susie Broquist Lundegård ist Programmkoordinatorin für Bildung für nachhaltige Entwicklung beim World Wide Fund for Nature in Schweden. Die ehemalige Lehrerin, Schulleiterin und Naturpädagogin arbeitet im europaweiten Horizon2020-Projekt School Food for Change (SF4C). Beim Kantine-Zukunft-Talk stellte sie uns in aller Kürze die Grundlagen des Whole School Food Approachs vor, der im Rahmen des Projektes erarbeitet wurde und verbreitet werden soll.

Whole School Food Approach: Was ist das?

Der Whole School Food Approach (WSFA) ist ein ganzheitliches Konzept, das Schüler*innen langfristig eine gesündere und nachhaltigere Lebensmittelauswahl bietet. Dabei geht es sowohl um das Schulessen, als auch um die Auswirkungen der Lebensmittelproduktion auf unsere Umwelt und unsere Gesundheit. Die Umsetzung des WSFA in die Praxis erfordert Teamarbeit und basiert auf vier Säulen, die alle berücksichtigt werden sollen.

Ihr wollt wissen, welche Säulen das sind?

Hier gibt es mehr Details zum Whole School Food Approach und Susies Input:

  1. Politische Rahmenbedingungen & Führungskompetenzen

Jede Schule hat eine Arbeitsgruppe, die einen Aktionsplan entwirft und aus Schüler*innen, Lehrenden, Köch*innen, Eltern und Schulleitung zusammengesetzt ist. In diesem Zusammenhang betont Susie die besondere Bedeutung der Schulleitung. Diese müsse voll und ganz hinter dem WSFA stehen, damit er gelingen könne.

  1. Ernährung & Ernährungssouveränität

Hier geht es sowohl um die Qualität des Schulessens als auch um die räumliche Bedeutung der Kantine als Lernumgebung. Es solle über Ernährung gesprochen und Lebensmittelverschwendung thematisiert werden.

  1. Bildung & Lernen

Ernährungsbildung soll fächerübergreifend unterrichtet und in den Lehrplänen verankert werden. Hierzu gehören theoretische Grundlagen, aber auch praktische Workshops, welche die Fähigkeiten und Gewohnheiten aller Beteiligten fördern. Lehrende und Küchenpersonal müssten hier eng zusammenarbeiten, betont Susie.

  1. Gemeinschaft & Kollaboration

Außerhalb des Klassenzimmers sollen Partner*innen für Kollaborationen gefunden und damit ein nachhaltiges Ernährungsumfeld etabliert werden: Das können Restaurants, Bäckereien, Bauernhöfe und viele weitere Partner sein.

Alle Schulen sind einzigartig

Deshalb heißt es kleine Schritte zu gehen und diese individuell auf den eigenen Schulkontext anzuwenden. Diese Tatsache unterstreicht Susie nochmals, in dem sie die drei verschiedenen Level „Bronze“, „Silber“ und „Gold“ vorstellt, die die teilnehmenden Schulen durchlaufen. Sie dienten nicht nur als Orientierung und Hilfestellung, sondern ermöglichten mit ihren festgelegten Kriterien auch eine internationale Vergleichbarkeit.

SchoolFood4Change

Konkret sollen über das Projekt insgesamt 600.000 Schüler*innen in über zwölf EU-Ländern erreicht werden. Derzeit wird ein Handbuch für Lehrkräfte erstellt. Diese Informationen werden dann auch ins Deutsche übersetzt und auf der Website SchoolFood4Change veröffentlicht. Speiseräume F+B ist als National Lead Partner und Bindeglied zu den deutschen Städten Teil des europaweiten Projektes.

Ernährung ist ein komplexes Thema und kann in jedes Fach integriert werden – von Mathe über Sprachen bis hin zu Sport.

Tom Václavík ist Direktor von „Wirklich gute Schule“. Inspiriert vom Food for Life Programme in England setzt er sich seit 2015 für den Whole School Food Approach in Tschechien ein – und zwar auf Landesebene. Schüler*innen sollen im Rahmen dessen Fähigkeiten und Gewohnheiten entwickeln, die sie für ein gesundes, erfolgreiches und nachhaltiges Leben brauchen. Auch soll eine gesunde Ernährung die Lernleistung von Heranwachsenden verbessern.

Doch wie kann das ganz praktisch in der Schule umgesetzt werden?

Das waren die Kern-Aussagen von Tom’s Online-Input:

  • Ernährungsthemen müssen fächerübergreifend in die Lehrpläne integriert und konsequent von Lehrenden umgesetzt werden.
  • Praktische Ernährungsbildung findet sowohl durch Exkursionen und Besuche bei Produzent*innen und Bauernhöfen als auch durch Kochkurse in der Schule statt. Hierfür gibt es Kochräume in den Schulen, wo Lehrende gemeinsam mit Schüler*innen kochen. Auch essbare Schulgärten sind ein zentraler Baustein.
  • Für die Lehrenden werden didaktische Materialien erarbeitet und zur Verfügung gestellt.
  • Kantinenessen schmeckt und wird aus frischen, regionalen, saisonalen Lebensmitteln zubereitet.

An dem Programm haben bisher 500 Schulen mit etwa 80 000 Kindern teilgenommen. Sie durchlaufen alle ein dreistufiges Award-System. Die Teilnahme am Programm kostet Schulen 100 Euro. Weitere Kosten werden durch die Kommunen sowie durch private Förderungen mitfinanziert – etwa für Exkursionen oder für den essbaren Schulgarten. Das Schulessen in Tschechien bezahlen die Eltern. Bereits hier zeigen sich einige Unterschiede im internationalen Vergleich – von den Schulküchen bis hin zur Finanzierung. Dass die Erfahrungen aus „Wirklich gute Schule!“ dennoch in anderen Ländern eingebracht werden können, zeigt die 2019 entstandene Schwesterorganisation in der Slowakei, die bisher etwa 100 Schulen begleitet hat.

„Wir laden Schüler*innen ein, neue Geschmackserlebnisse zu erfahren.“

Cecilia Eyssartier ist Biologin, Waldorflehrerin und Gast-Wissenschaftlerin an der Witten-Herdecke Universität. Als Projektleiterin von Gesundheit für alle – One Health an der Freien Waldorfschule Bonn hat sie gemeinsam mit dem Ernährungswissenschaftler Luis Daniel Monteribianesi ein ganzheitliches Ernährungsprogramm ins Leben gerufen.

Hierbei verknüpfen sie Wissenschaft und Praxis und laden die Schüler*innen ein als Forscher*innen, Köch*innen und Künstler*innen aktiv zu werden. Wie? Durch Beobachtung und Experimente können die Kinder vielfältige Perspektiven auf Ernährung und Umwelt untersuchen und erfahren – zum Beispiel im Rahmen der jahrgangsübergreifenden Sprossenschule. Diese beginnt ganz klein mit einem Samen, der im Glas zu Sprossen und letztlich einem mobilen Taschengarten heranwächst. Auf diese Weise soll die Komplexität von Ernährung und Gesundheit in den Schulkontext überführt und die oftmals bestehende Lücke zwischen Theorie und Praxis geschlossen werden.

Ihr wollt mehr über das Projekt Gesundheit für alle – One Health erfahren?

Hier gibt es weitere Details:

Die Sprossenschule stützt sich auf folgende Leitlinien:

  1. Möglichkeit des Zugangs zu guter Schulverpflegung und Ernährungsvielfalt
  2. Förderung kultureller Diversität
  3. Festigung des Umweltbewusstseins
  4. „Learning by Doing“: Lebenslanges Lernen

Die Sprossenschule ist also einerseits mit einem Labor vergleichbar, in dem biologische und chemische Ernährungsprozesse erforscht werden – vom Keimen, über das Fermentieren bis hin zum Kochen. Andererseits unterstreicht es die Projektidee eines „lebendigen Klassenzimmers“, in dem Ernährungsbildung nicht nur fächerübergreifend, sondern auch außerhalb des Klassenzimmers stattfindet und sowohl Köch*innen, Lehrende, Eltern als auch das gegenseitige Lernen der Schüler*innen untereinander einbindet. Deshalb erarbeiten Cecilia und Luis auch didaktische Materialien wie etwa das Sprossen-Arbeitsbuch, das für andere Schulen und Schulformen übertragbar sein soll.

 

Was nehmen wir aus den Online-Inputs mit?

Der Vergleich auf europäischer Ebene zeigte schnell: Es gibt strukturelle Unterschiede zwischen den Ländern. In schwedischen Schulen wird fast ausschließlich vor Ort gekocht, während in Deutschland die meisten Schulen von Caterern beliefert werden. Ist in Berlin das Schulessen kostenlos, tragen in Tschechien die Eltern die Kosten des Mittagessens. Dort gibt es hingegen spezielle Kochräume, die Lehrende zur Ernährungsbildung ihrer Schüler*innen nutzen können. Doch trotz der verschiedenen Rahmenbedingungen sind sich alle einig, dass Kollaboration wesentlich für die Veränderung der Schulverpflegung sind und dafür alle an einem Strang ziehen müssen.

Darum ging es im Podiumsgespräch

Partizipation, Schulverwaltung, Ausbildung und Schulcatering: genau diese Themen wurden nach einer kurzen Pause in der Diskussion aufgegriffen. Dabei waren sich alle drei Expert*innen des Podiums einig: Schule sei mehr als Mathe, Deutsch und Englisch – Ernährungsbildung müsse Teil des Unterrichts sein. Hier haben wir die Themen des Abends für euch zusammengefasst:

Partizipation und Zusammenarbeit

„Kinder, Eltern und Koch – alle müssen partizipativ miteinbezogen werden. Wir wollen kein Einzelkämpfertum, sonst ist der Whole School Food Approach nicht zu erreichen.“ Constanze Rosengart macht klar, wie wichtig die Einbindung von allen Akteur*innen für die praktische Umsetzung ist. Die engagierte Schulleiterin der Carl Schurz Grundschule verrät auch gleich ihr Erfolgsrezept dafür: „Zulassen! Alle Ideen, die an meiner Schule umgesetzt wurden, kamen nicht von mir, sondern von Schülern, Lehrern, Eltern und anderen.“ Die für den WSFA essenzielle Zusammenarbeit wird in der Grundschule auf vielen Ebenen gelebt: Koch Robert bereitet täglich frisches Mittagessen für circa 550 Kinder zu. Aus DGE-Standards hat er ein Puzzle für die Schulkinder entwickelt, mit verschiedenfarbigen Kärtchen für die Lebensmittel. In einer Doppelstunde einer Klasse übernimmt der Koch die Stunde zu gesunder Ernährung. Die Kindergruppen dürfen den Speiseplan dann für die nächsten 10 Tage zusammenstellen. Das Resultat? Akzeptanz für Neues und Selbstwirksamkeit: „Die Kinder meckern nicht, weil nicht die Erwachsenen entscheiden, was auf den Teller kommt, sondern die Kinder“, fasst es Constanze zusammen.

Personal und Ausbildung

Steffen Wittkowske bildet an der Universität Vechta die nächste Generation an Pädagog*innen aus. Als Universitätsprofessor für Didaktik des Sachunterrichts liegen seine Schwerpunkte auf dem Gebiet der Ernährungs- und Verbraucherbildung und Gesundheitsförderung. Im Zuge dessen arbeitet er an einer Umstrukturierung der Ausbildung. Schule müsse neu gedacht werden, denn Schul- und Gesellschaftsentwicklung seien stark voneinander abhängig. Veränderte Perspektiven und Wechselwirkungen müssten Einzug in die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrer*innen finden. Dies betreffe nicht zuletzt die Priorisierung und den Blick nach vorne: „Wir haben einen Zukunftsauftrag. Aus dem Lern- und Lebensort Schule muss ein Lebens- und Lernort Schule werden. Zum Körper Schule gehört auch eine Mensa oder Küche und eigentlich auch ein Garten, um das aktuelle Schulsystem aufzubrechen.“ Gleichzeitig betont der Leiter des Kompetenzzentrums Schulverpflegung an der Universität Vechta die Bedeutung von engagierten Lehrenden und die Herausforderungen durch den Lehrkräftemangel: „Schule kann nur das leisten, was Schule gerade personell leisten kann. Auf die Lehrer kommt es an. Und es sind zu wenige!“

Schulmensa als Lern- und Genussort

Im Input zum Whole School Food Approach von Susie wurde klar: Zentrale Bausteine für Ernährungsqualität sind das Essen an sich und die räumliche Atmosphäre des Speiseortes. „Ernährung hat etwas mit Genuss zu tun, da darf auch die Tischkultur nicht fehlen“, kommentiert Steffen Wittkowske. Das greifen die Podiumsteilnehmer*innen auf und kritisieren die überwiegend schlechten Rahmenbedingungen der Essensausgabe an Schulen: Es fehle an Platz und an Zeit. In vielen Schulen Berlins folge das Mittagessen wegen des Platzmangels einem Schichtsystem. So auch in der Carl Schurz Schule. Hier bleiben den Kindern im Schnitt nur 15 Minuten Zeit zum Essen. Auch Dorothee Everding spricht aus Erfahrung: „Wenn bei Sanierungen der Schulgebäude aus den 1970er Jahren nur Aufwärmküchen vorgesehen sind, weil das vermeintlich günstiger ist, dann geht der Schuss nach hinten los. Der Wille der Caterer ist wichtig!“ Als ehemaligen Realschullehrerin und stellvertretende Schulleiterin führte sie zahlreiche Schulprojekte in den Bereichen Nachhaltigkeit und Schulentwicklung durch. Seit Januar 2022 ist sie Projektmanagerin des EU Horizon 2020-Projekts SchoolFood4Change bei der Stadt Nürnberg. Sie nimmt beim Kantine-Zukunft-Talk die Schulverwaltung(en) in die Verantwortung. Diese müssten adäquate Rahmenbedingungen schaffen. Das könne nicht die Aufgabe von Schulleitungen oder Lehrenden sein, so Dorothee Everding weiter.

Schulcatering: Nachfrage und Angebot

Die meisten Schulen in Deutschland beziehen ihr Essen von Cateringunternehmen. Dabei fungieren Schulen als Auftraggeber und Caterer als Dienstleister und das stelle Caterer vor Herausforderungen. Darauf weist ein Gast aus dem Publikum hin, der selbst in einem großen Cateringunternehmen arbeitet. Die Caterer bedienen die Nachfrage der Schulen, doch die Anforderungen seien extrem hoch. Dorothee Everding teilt jene Einschätzung und schlägt in diesem Zusammenhang Fortbildungen für Caterer vor. Auch Anna Rechenberger von SF4C knüpft an diese Idee an: „Caterer müssen mit in die Prozessveränderung einbezogen werden durch einen ständigen Austausch, etwa in Form von regelmäßigen runden Tischen.“

 

Wünsche und Forderungen

„Was für eine Botschaft wünscht du dir auf einem Plakat, das wir hier an der Markthalle aufhängen würden?“ Mit dieser Frage endete unsere spannende Podiumsdiskussion. Die Antworten von Dorothee Everding, Constanze Rosengart und Steffen Wittkowske wollen wir euch an dieser Stelle nicht vorenthalten.

„Freies Essen für alle Schüler und Schülerinnen! Auch Frühstück!“

(Dorothee Everding)

„Essen ist Zukunft!“

(Steffen Wittkowske)

„Glaube an dich und probiere es aus!“

(Constanze Rosengart)

Vielen Dank für den Austausch, das große Interesse und den interessanten Abend.
Im November laden wir wieder zum Kantine-Zukunft-Talk ein. Hier geht es zur Anmeldung.

Fotos: Étienne Degeest

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