„Ernährung ist politisch, Appetit ist es nicht.“
Das erste Berliner Kantinenfest am 09.11.22 hat im großen Rahmen die Leistungen der Berliner Gemeinschaftsgastronomie – insbesondere im Zusammenhang mit der Kantinen Werkstatt – gefeiert. Fünf Küchen wurden für ihre besonderen Leistungen ausgezeichnet.
Der Projektleiter der Kantine Zukunft, Dr. Philipp Stierand, hat in seiner Rede auf dem Fest die besondere Rolle der Küchenteams für eine Transformation der Gemeinschaftsgastronomie betont. Das Projekt Kantine Zukunft zeigt seiner Meinung nach, dass es viele „Kantinen Zukunft“ braucht, die aber in eine weitergehende Ernährungspolitik eingebettet sein müssen. Vor allem der Aktivierung der Kommunen schreibt er eine besondere Rolle für das Gelingen einer nachhaltigen Ernährungspolitik in Deutschland zu.
Wir dokumentieren hier im folgenden das Manuskript der Rede und den Videomittschnitt.
Fünf Lehren aus dem Projekt Kantine Zukunft
1. Hohe Bio-Anteile als Hebel für gutes Essen.
Eine Nachricht vorne weg, die uns als Projektmacher*innen sehr glücklich gemacht hat: Es funktioniert. Hohe Bio-Anteile auch im selben Budget sind möglich – die Küchenteams, die wir heute hier auf der Bühne gesehen haben und noch sehen werden und viele weitere, zeigen, dass es funktioniert. Sie zeigen, dass dieser Ansatz Sinn macht, gerade weil es eine Herausforderung ist und vieles ändert.
Auf dem Kantinenfest werden heute 5 Küchen bzw. Einrichtungen ausgezeichnet. Diese stehen stellvertretend für viele weitere Einrichtungen, die sich mit oder ohne die Begleitung der Kantine Zukunft auf den Weg gemacht haben. Auf den Weg, Dinge anders zu machen. Dinge besser zu machen. Mehr Wert auf Qualität und Nachhaltigkeit zu setzen. Wir wollen hier aufzeigen, was sich verändern kann und muss.
Hohe Bio-Anteile im selben Budget sind möglich. Mit der Berliner Methode sind sie ein Hebel für mehr Nachhaltigkeit, mehr Gesundheit und mehr Lecker.
2. Der Schlüssel für die Transformation liegt in der Küche.
Niemand von uns geht in die Kantine um sich über Ökolandbau zu informieren. Die wesentliche Idee eines Mittagessens ist bei den meisten von uns auch nicht das Klima zu schützen. Wir wollen lecker satt werden.
Ernährung ist politisch, Appetit ist es nicht. Der Schlüssel das zusammenzubringen liegt in der Küche: Nachhaltiges, gesundes Essen lecker zu machen. Es geht darum einen Rahmen, einen Speiseplan anzubieten, in dem sich der Gast ganz nach Appetit frei entscheiden kann. Und es geht darum den Küchenteams ein sinnvolles Arbeiten zwischen den Ansprüchen von Gast, Institution und Gesellschaft zu ermöglichen.
Wir werden oft gefragt, wie wir als Kantine Zukunft zusammen mit der Einrichtung die Gäste über Änderungen in ihrer Kantine informieren bzw. welche Gastkommunikation wir empfehlen. Wir haben Flyer, Poster, Tischaufsteller, … Die beste und entscheidende Gastkommunikation ist jedoch das gutes Essen.
Einen hohen Bio-Anteil im Kantinen-Budget lecker zu machen erfordert eine Küche mit einfachen und ehrlichen Gerichten. Patrick Wodni nennt es den radikal kürzesten Weg in der Zubereitung. Statt vorverarbeiteter Produkte werden Roh-Produkte eingekauft, die in Verbindung mit den richtigen Rezepten möglichst wenig verarbeitet werden.
Für diese Art der Küche braucht es saisonale Ware. Wir verstehen das nicht als Einschränkung auf nur eine Saison, sondern als Möglichkeit die Explosion an zur Verfügung stehenden Sorten und Varianten in der jeweiligen Jahreszeit zu nutzen. So wird Saisonalität zu einem genialer Hebel für Vielfalt. Und diese Vielfalt brauchen wir – aus der politischen Perspektive – dringend für unser gesamtes Ernährungssystem.
In Diskussionen werde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert: „Was kochen wir in der Kraut- und Rübenzeit?“. Nun bin ich kein Koch, aber unser Trainerteam hat darauf eine sehr klare Antwort: „Kraut und Rüben“.
Zum vielbemühten Stichwort Regionalität noch eine Bemerkung: Wir brauchen Küchen vor Ort in denen gekocht wird. Das ist ein wichtiger Teil regionaler Wertschöpfung.
3. Küchenteams können ein Treiber der Transformation sein.
Wir müssen die Küchenteams und Institutionen ermächtigen die Transformation voranzutreiben. Dazu brauchen sie den Blick von außen, Know-how und Beratung auf Augenhöhe. Transformation geht nicht über Flyer oder eine App, sondern ist in der Beratung wie in der Umsetzung aufwendige Handarbeit.
Aus unserer Sicht hat sich eine undogmatische und pragmatische Beratung als entscheidend herausgestellt. Wir machen nicht 100% Klimaschutz, nicht 100% Lebensmittel-Abfall-Reduzierung und sind nicht 100% vegetarisch, nicht 100% Bio. Aber wir sind überzeugt, dass wir so insgesamt mehr erreichen als wenn wir uns nur auf eines dieser Felder konzentrieren.
Wir in der Kantine-Zukunft erleben jeden Tag gemeinsam mit den Küchenteams die Herausforderungen, Niederlagen und Erfolge. Und das schönste ist, wenn wir in Küchen Monate nach der letzten Beratung Entwicklungen sehen, die weit über unsere Empfehlungen hinaus gehen: wenn der Koch erzählt, dass er am Wochenende nach Brandenburg fährt, um sich den Wintervorrat zu kaufen; wenn die Ansätze der Kantine Zukunft in einer Institution auch ohne uns von Küche zu Küche weiterverbreitet werden; wenn Köch*innen und Küchenteams in einen Wettbewerb um den höheren Bio-Anteil eintreten.
Die Küchenteams können die wahren Treiber*innen der Transformation werden. Wer will das, nach dem was wir heute schon gehört und gesehen haben, in Frage stellen.
4. Öffentliche Hand darf nicht nur wünschen, sondern muss auch bestellen.
Von den Herausforderungen vor denen die Branche gerade steht, ausgelöst durch Krisen, Inflation und Homeoffice, habe ich noch nicht gesprochen. Dafür Lösungen zu finden ist eine wichtige Aufgabe, die aber Transformation nicht blockieren, sondern fördern muss. Lebensmittel werden teurer, aber der Preisabstand zwischen Konventionell und Bio sinkt. Die Berliner Methode funktioniert also weiterhin.
Klar ist aber: Der Staat darf sich eine gute Gemeinschaftsgastronomie nicht nur wünschen, sondern muss sie auch bestellen. Von jeder Verbraucher*in erwarten wir aufgeklärte Kaufentscheidungen – dann bitte erst recht von der öffentlichen Hand.
Kopenhagen – das große Vorbild Berlins in Sachen „Kantine Zukunft“ – hatte (vereinfacht gesagt) drei Säulen zum Umbau der Gemeinschaftsverpflegung: Beratung, Neuausrichtung der Beschaffung und Aufrüstung der Küchen-Infrastruktur. Eine dieser Säulen reicht nicht für die notwendige grundsätzliche Transformation.
Ein „House of Food“ als weiche Maßnahme kann auf gesellschaftlichen Wellen mitschwimmen und diese unterstützen. Aber nicht gegen sie ankämpfen. Es ist für Küchenteams (und uns) frustrierend, wenn Entscheidungen von Dritten mühsam erkämpfte Erfolge wieder zu Nichte machen. Es ist (fast) unmöglich aus der Küche gegen (auch politische) Entscheidungen anzuarbeiten, die vielleicht nicht in ihrer Intention, aber in ihrer Wirkung gutes, nachhaltiges Essen verhindern.
Kantine Zukunft braucht einen ernährungspolitischen Rahmen: Gemeinschaftsgastronomie braucht Geld, gute Lebensmittel, Infrastruktur, Arbeitszeit und aufgeschlossene Gäste.
5. Die Transformation braucht eine gute Ernährungspolitik in den Kommunen
Eine Kantine Zukunft funktioniert nicht als einsamer Leuchtturm: Sie muss in andere Maßnahmen eingebettet werden.
Berlin hat sich ein Gesamtkonzept der verschiedenen ernährungspolitischen Maßnahmen mit der Ernährungsstrategie zur Aufgabe gemacht. Die Kantine Zukunft und Berlin lassen erahnen, was auf der lokalen Ebene alles möglich ist.
Wenn wir über sinnvolle Regionalität sprechen, dann lässt sich die nicht zentral organisieren. Wenn wir besseres Essen für die Menschen wollen, dann müssen wir Politik auch an dem Ort machen, wo die Menschen essen. Wenn wir Ernährungsumgebungen gestalten wollen, muss das auch vor Ort mit dem lokalen Wissen um diese Umgebungen passieren. Wenn wir eine nachhaltige, innovative Ernährungspolitik wollen, dann müssen wir die vielen lokalen zivilgesellschaftlichen Initiativen stärken.
Kommunen sind international ein wichtiger Träger von nachhaltiger, innovativer Ernährungspolitik. National ist das eher die Ausnahme. Das Fehlen deutscher Kommunen bei internationalen Projekten und Initiativen zur Ernährungspolitik finde ich mittlerweile peinlich.
Für eine Ernährungswende brauchen wir viele „Houses of Food“, viele Kantinen Zukunft. Eingebettet in eine Politik, die klare Vorgaben macht. Und unterstützt von aktivierten Kommunen, die mit ihrer Ernährungspolitik das Umfeld für eine Transformation der Gemeinschaftsgastronomie und das Engagement der Küchenteams schafft.
Lassen Sie uns das gemeinsam aus diesem Projekt Kantine Zukunft lernen!
Fotos: © Hella Wittenberg für Kantine Zukunft